Eine merkwürdige Begebenheit in der Soester Nacht vor Allerheiligen - All Hallows Eve
Gedenke des Todes, denn er ist dir näher, als du ahnst!
Memento Mori
© Sonja Wolfer
Wir schreiben den 31. Oktober. In einer wunderschönen Stadt namens Soest laufen die letzten Vorbereitungen für die größte Innenstadtkirmes Europas - die Allerheiligenkirmes. Zwischen alten Fachwerkhäusern und Kirchen wachsen seit Tagen Karussells in den Himmel, Buden für Speisen und Getränke werden aufgebaut und selbst die einstigen Feinde der alten Hansestadt am Hellweg werden festlich geschmückt.
Doch es ist auch der Tag vor Allerheiligen. Der Tag, an dem die Toten geehrt werden. All Hallows’ Eve, der Abend und die Nacht vor Allerheiligen, wo die Grenze zwischen dem Reich der Toten und der Lebenden fällt, beginnt.
Auf dem Osthofenfriedhof leuchten zahlreiche Grablichter, die liebende Angehörige auf den Gräbern ihrer Verstorbenen angezündet haben. Die Nacht ist hereingebrochen und Stille hat sich über den geweihten Ort gelegt.
Doch da! Ein Kratzen, dann ein Rumpeln, auf das ein dumpfes Geräusch folgt, das den Boden erzittern lässt. Eine schwere Grabplatte wird von einem knöchernen Paar Hände vollständig zur Seite geschoben und ein Totenschädel taucht aus der feuchten Tiefe des Grabes auf.
„Hey, bleib hier!“, tönt es aus dem Grab. „Wir dürfen nicht raus!“
Das Skelett neigt seinen Totenschädel nach unten. „It is All Hallows‘ Eve!”, hallt seine Stimme über den Totenacker.
„Was is hallo?“, klingt es aus dem Grab.
Das Skelett schüttelt seinen Schädel, stemmt sich vollständig hoch und kriecht aus der Grabstätte heraus. Noch einmal schaut es in die offene Grube und wendet sich dann dem Ausgang des Friedhofes zu.
Nur wenige Minuten später in der Altstadt. Die letzten Schausteller haben ihre Arbeiten beendet und sich in ihre Unterkünfte zurückgezogen. Auch die Soester sind längst nach Hause gegangen, haben ihre Türen verschlossen und bereiten sich auf die Nacht vor.
Dann geschieht es: Die Lampen des nostalgischen Karussells am Hansaplatz beginnen zu leuchten, ohne dass eine Menschenseele zu sehen ist.
Kurz darauf glühen alle Lämpchen des Kettenkarussells am Dom. Die leeren Sitze drehen sich zunächst langsam und dann immer schneller im Kreis, bis nur noch ein Wirbel von glänzenden Ketten zu erkennen ist. „Ein schöner Tag!“ schallt ein Lied durch das nächtliche Soest und die Bewohner reiben sich verwundert die verschlafenen Augen.
Am Petrikirchplatz ragt das mittlerweile ebenfalls hell erleuchtete Riesenrad in den Nachthimmel. Zwei Männer des Ordnungsamtes sowie zwei Polizisten verfolgen gebannt, wie es stetig seine Runden dreht. Die Gondeln sind leer.
Halt, eine der Gondeln ist nicht leer. Auf ihrem Dach hat sich eine seltsam dürre Gestalt ausgestreckt, einen schmalen Arm aufgestützt, das Haupt in die knöcherne Hand gelegt.
Als die Gondel sich auf den Boden zubewegt und die Gestalt sich aufrichtet, weichen die Männer Schritt für Schritt zurück.
Doch es ist bereits zu spät. Die Gestalt springt aus mehr als fünf Metern Höhe von dem Riesenrad und landet direkt vor ihnen auf dem Kopfsteinpflaster.
„Angenehm, meine Herren. Darf ich Sie auf ein Bullenauge einladen? Heute Nacht geht alles auf mich.“ Mit diesen Worten wendet die Gestalt sich einer Getränkebude zu, deren Jalousien sich wie von Geisterhand öffnen und den Blick auf ein Tablett mit Gläsern freigeben.
„Bitte meine Herren. Bedienen Sie sich.“
Die knöcherne Hand deutet auf den oberen Teil des Brustgerippes. „Übrigens, darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Paul-Paulina, Skelett und Muse einer Soester Schriftstellerin. Auf die Kirmes, meine Herren, und auf Ihr Wohl. Memento Mori!“
Kommentar schreiben
Ute Silke-Wittke (Dienstag, 01 November 2022)
Hallo Sonja,
es gefällt mir gut, wie Du schreibst!
Es macht mich neugierig mehr von Paul-Paulina zu erfahren.
Liebe Grüße
Ute